Helena – so heißt die Hauptprotagonistin meines Fantasyromans „Hexenherz„. Und hat mich oft an den Rand des Wahnsinns geführt.

Als Autor hat man meistens einen Plan. Mehr oder weniger. Es gibt Autoren, die ihr gesamtes Manuskript sorgfältig und bis ins kleinste Detail druchplotten (Als „Plot“ bezeichnet man die Handlung); andere wieder schreiben einfach munter drauflos.
Und manche, so wie ich meist, gehen den Mittelweg und verfassen einen groben Plot, der viel Handlungsspielraum lässt. Jede Vorgehensweise hat ihre Vor- und Nachteile und hat auch viel damit zu tun, was man für ein Typ ist.

Vor die Wahl gestellt könnte ich mich zwischen den beiden Extremen – bis ins Kleinste durchplotten oder lange Zeit einfach vor sich hinschreiben – nicht entscheiden, da ich mit beiden  Arten zu schreiben schon gute Erfahrungen gemacht habe.

Was aber, wenn auf einmal alles aus dem Ruder läuft und sich die Figuren gar nicht so verhalten, wie sie sich verhalten sollen?

Das war bei Helena oft der Fall. Sie hat mich überrascht – sowohl im positiven, als auch im negativen Sinne – und hat ab und an einen ganz anderen Weg eingeschlagen, als es für sie gedacht war.

Wieso?

Als Autor erschafft man Protagonisten, kreiert Figuren, schmiedet und erschafft Charaktere. Manchen dienen „echte“ Menschen als Grundlage, wieder andere formulieren völlig frei. Doch eines haben alle guten Autoren gemeinsam: Sie kenne ihre Charaktere!
Wenn sich also ein Protagonist auf einmal anders verhält, als erwartet … hat man als Autor nicht genug aufgepasst. 😉

Ein Beispiel:
Vanessa ist 26 Jahre alt, hat nach dem Abitur ein Jahr Bundesfreiwilligendienst in einem Altenheim verrichtet, arbeitet seit 10 Jahren ehrenamtlich im Tierheim und studiert im letzten Semester Biologie und Sport auf Lehramt.
Soweit, so gut. Diese knappe Beschreibung schafft das Bild einer jungen Frau, die sich sozial und für Tiere engagiert, sportlich und intelligent ist und gerne mit Kindern oder Jugendlichen arbeitet.

Doch was, wenn sie sich jetzt folgendermaßen verhalten würde:
1. Es stellt sich heraus, dass sie Vegetarierin ist.
2. Es stellt sich heraus, dass sie Tiere hasst.
3. Es stellt sich heraus, dass sie Kinder nicht ausstehen kann.
4. Es stellt sich heraus, dass sie sehr sehr schüchtern ist und vor anderen Menschen nicht gut sprechen kann.
5. Es stellt sich heraus, dass sie 20 Jahre später Kinder und Jugendliche nicht ausstehen kann.

Was davon passt zu Vanessa und was wäre völlig unglaubwürdig und somit ein grober Fehler?
1. Vanessa ist Vegetarierin. Sie ist tierlieb und achtet anscheinend auf eine gesunde Ernährung. Dafür muss man nicht zwangsläufig auf Fleisch verzichten, aber es spricht auch nichts dagegen. Vanessa darf also Vegetarierin sein.
2. Vanessa hilft seit 10 Jahren ehrenamtlich im Tierheim aus, kann aber Tiere nicht ausstehen? Wie passt da denn zusammen?
Erstmal gar nicht.
Es sei denn, sie hätte ein anderes Motiv, sich dort zu engagieren. Da sie dies bereits seit 10 Jahren macht, müsste dieses Motiv SEHR stark sein und über ein simples „Der eine Angestellte ist sooo süß!“ hinausgehen.
Hinzu kommt, dass sie Biologie studiert. Würde das jemand tun, der eine starke Abneigung gegen Tiere hegt?
Insgesamt lautet das Urteil: Es ist höchst unrealistisch, dass Vanessa Tiere hasst. Eine Textstelle, in der dies behauptet wird, muss geändert werden.
3. Vanessa soll Kinder nicht ausstehen können. Auf den ersten Blick spricht alles dagegen: Warum sollte eine junge, intelligente, engagierte Frau keine Kinder mögen?
Andererseits: Warum sollte sie? Menschen sind verschieden und nicht jeder mag Kinder. Es könnte also sein. Da Vanessa allerdings bislang sympathisch in Erscheinung getreten ist und Kinderfreundlichkeit allgemein positiv gewertet wird, sollte man so etwas als Autor nicht einfach unkommentiert in den Raum werfen, sondern es Vanessa begründen lassen.
Bliebt die Frage, warum jemand, der keine Kinder mag, Lehrerin werden will?
Ich denke, wir alle kennen Lehrer, die offensichtlich keine große Freude an ihrer Arbeit mit Kindern haben. Vanessa ist aber noch gar keine Lehrerin, eventuell später entstehende Gründe liegen also noch nicht vor. Warum also das Lehramtstudium?
Vanessa könnte das Ziel haben, Gymnasiallehrerin zu werden, später an Berufsschulen zu unterrichten oder etwas in der Art, wobei sie nicht mit Kindern, sondern nur mit Jugendlichen und (jungen) Erwachsenen in Kontakt kommt. Das wäre in Ordnung, sie könnte sagen, mit Kindern erst ab einem gewissen Alter zurechtzukommen. Eine logische, schlüssige Begründung, die einem entsprechenden Lehramtstudium nicht im Wege steht.
Käme sie allerdings auch mit Jugendlichen nicht zurecht, erschiene der Berufswunsch Lehrer endgültig unrealistisch und an den Haaren herbeigezogen. Es sei denn, man hätte eine verdammt gute Begründung, etwa Druck von Seien der Eltern aus, die schon in der x. Generation Lehrer sind. Dann hätte sich Vanessa aus Zwang heraus für diesen Berufsweg entschieden, was auch einiges über ihren Charakter und das Verhältnis zu ihrer Familie aussagen würde.
Wäre das Verhältnis zu ihrer Familie allerdings … usw., usf.
4. Vanessa soll schüchtern sein und vor anderen Menschen schlecht sprechen können.
Man stellt sich schnell die Frage, wie sie es so schafft, ihr Studium und anfallende Praktika zu bewältigen. Da braucht es Erklärungen: Hat sich Bewältigungsstrategien? Warum möchte sie dann Lehrerin werden, da dieser Beruf ein Albtraum für sie sein müsste? Oder geht es ihr gerade darum, sich dazu zu zwingen, sich dieser enormen Herausforderung zu stellen? Hofft sie etwa so, sich quasi selbst zu heilen? Wird sie es schaffen? Oder wird sie an dieser Hürde scheitern?
Ja, Vanessa kann sehr sehr schüchtern sein und auf Lehramt studieren. Doch es muss klar sein, dass dies erstmal als Widerspruch erscheint und erklärt werden muss, damit Vanessa als Charakter glaubwürdig bleibt.
5. Vanessa hat nach 20 Jahren als Lehrerin die Nase gestrichen voll von Kindern und Jugendlichen. Ein leider glaubhaftes Szenario, wenn wir uns so manchen lustlosen, strengen, ungeliebten Lehrer in Erinnerung rufen. Hier reicht ein einfacher Satz wie etwa
Nach 20 Jahren an der X-Schule, in der sie aufgrund der Unfairness ihrer Kollegen, der Faulheit des Rektors und ihrer eigenen Unfähigkeit, Nein zu sagen gezwungen gewesen war,  nur die schwierigsten und verhaltensauffälligsten Schüler zu unterrichten, hatte sie die Nase gestrichen voll.“
Oder auch: „Nachdem sie 20 Jahre lang fast jeden verdammten Wochentag Schüler aller Altersstufen unterichtet hatte, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als fortan nur noch mit Erwachsenen zu tun zu  haben.“
Das geht natürlich auch symphatischer:
All die Jahre, die sie an der Schule für ihre Schüler gekämpft hatte, in denen sie versucht hatte, den Jugendlichen eine Perspektive zu verschaffen, hatten sie ausgebrannt.“

Überrascht ein Protagonist also seinen Autor mit einer Eigenschaft oder Reaktion (Handlung, Aussage), gilt es vorsichtig zu sein und genau zu untersuchen, ob eben jenes zu der Person passt. Scheinbare Widersprüche gilt es dem Leser zu erklären („Sie wusste selbst nicht, warum sie das gesagt hatte, das war doch sonst nicht ihre Art. Doch etwas an ihm brachte sie zur Weißglut.“ oder „‚Weißt du was?'“, sagte sich aufgedreht. ‚Heute machen wir mal etwas ganz Verrücktes, ich habe es so satt, immer das brave Mädchen zu spielen!'“)

In Hinsicht auf Helena stellte sich übrigens heraus, dass all ihre Reaktionen (für sie) begründet waren und ihrem Charakter entsprechen; ich kannte sie nur anfangs noch nicht gut genug. In manchen Hinsichten hatte ich sie über-, in anderen unterschätzt.

Kategorien: Schreibtipps