Winterjagd

Die Spuren sind eindeutig.                                                              

„Ein Reh“, sage ich und seufze. „Nach Abzug von allem Möglichen sicherlich 20 Kilo feinstes Fleisch.“

Nihan runzelt die Stirn. „Was ist denn ‚alles Mögliche‘?“

„Knochen und Gekröse halt.“

„Gekröse?“ Sie lacht. „Dafür gibt es ein Wort, liebe Helena. Das nennt sich ‚Innereien‘!“

„Na von mir aus“, grummele ich zurück. Als ob das wichtig wäre. „Auf jeden Fall wäre das eine schöne Mahlzeit gewesen. Oder sollte ich lieber sagen, ein vorzügliches Mahl?“

Nihan grinst und schüttelt den Kopf. „Versuch`s erst gar nicht, keine nimmt dir so eine Wortwahl ab!“

Alexandra wirft mir einen hämischen Blick zu. „Kann ja nicht jede eine kultivierte Erziehung genossen haben!“

Göttin, der würde ich echt gern das Maul stopfen! Aber eines Tages, das schwöre ich, stehe ich über dieser blöden Ziege und dann hat sie nichts mehr zu grinsen!

„Hört auf jetzt!“ Mist! Frau Dahl, die Gardezweite, hat sich wieder einmal absolut geräuschlos genähert. „Helena, du bist Teil der Ostgarde. Also benimm dich auch so! Alexandra – diese Gehässigkeit ist unter deiner Würde. Oder sollte es zumindest sein.“

Nihan und ich tauschen einen schadenfrohen Blick. Alexandra hat eindeutig den größeren Rüffel bekommen.

Frau Dahl beugt sich über die Knochen. „Helena, was kannst du mir dazu sagen?“

„Das war eindeutig mal ein Reh“, sage ich. „Auf den ersten Blick sieht es so aus, als wäre es von Wölfinnen gerissen worden.“

„Das sieht nicht nur so aus, das ist auch so“, kommt es von Alexandra.

Frau Dahl dreht sich nicht einmal um. Alexandra fällt um wie ein gefällter Baum. Der tiefe Schnee dämpft ihren Sturz. Was weh tut, ist die Demütigung. Ohne die Bestrafung zu kommentieren, schaut die Gardezweite mich an, hebt ihre Augenbrauen. „Weiter?“

Kurz zögere ich. Alexandra liegt immer noch im Schnee. Ich habe Frau Dahl schon mehrfach in Aktion gesehen. Ihre Magie erzeugt Druck. Was sie mit Rebellinnen oder männlichen Soldatinnen aus dem Großen Moldawischen Reich anstellt, ist – gelinde gesagt – eine ziemliche Sauerei. Scheinbar kann sie aber auch sanft sein. Trotzdem will ich jetzt um nichts in der Welt an Alexandras Stelle sein.

„Äh, also … Ich glaube nicht, dass es Wölfe waren.“

„Wieso nicht?“ Frau Dahl deutet auf einzelne Knochen. „Siehst du das da und das? Diese Rillen und Kratzer weisen ganz eindeutig auf ein Raubtier hin. Hier und hier siehst du es ganz deutlich, das waren Eckzähne. Von der Größe her Wölfinnen.“

Ich betrachte die wenigen Überreste. Spuren gibt es keine, da der Schnee erst in den letzten Stunden gefallen ist. Wir haben den Knochenhaufen nur gefunden, weil Amanda das darunter versickerte Blut gerochen hatte. Leider hat der Schneefall auch dafür gesorgt, dass ich keine anderen Spuren wie abgeknickte Äste oder dergleichen finden konnten. Amanda konnte lediglich aufgrund verlorener Blutstropfen sagen, woher das Reh auf seiner panischen Flucht gekommen war.

„Außerdem“, fährt Frau Dahl fort, „passen die Spuren zu denen, die wir letzte Woche und in der Woche davor gefunden haben. Wir wissen, dass sich hier ein Wölfinnenrudel aufhält. Habe ich etwas übersehen? Weist irgendetwas darauf hin, dass Menschen am Werk waren?“

Es wäre so einfach, jetzt „nein“ zu sagen. Wir würden weiterziehen und ich würde nichts riskieren. Mich nicht zur Äffin machen, falls ich falsch läge. Andererseits: Wenn sich das hier noch länger hinzieht, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich Alexandra, die noch immer zusammengepresst im Schnee liegt, ein paar Frostbeulen holt.

Ich hole tief Luft. „Nadine ist etwas aufgefallen.“

„Ach ja?“ Frau Dahl hebt wieder ihre Augenbrauen. „Und was?“

Da Nadine nur eine Anwärterin ist und sie mir zugewiesen wurde, liegt die Verantwortung bei mir. Die Gardezweite würde also im Zweifelsfall mich bestrafen und nicht Dini.

Nihan nickt mir zu.

„Diese Stelle da“, ich deute auf den Beckenknochen, in dem sich die von Frau Dahl erwähnte Rille befindet. „Da sehen wir die Spuren eines Eckzahns.“

„Das sagte ich bereits, Helena. Komm zur Sache.“

„Die Sache ist die: An diesem Eckzahn scheint eine winzige Ecke abgebrochen zu sein. Da sieht man es, die Spuren sind nicht ganz regelmäßig, sondern weisen hier und hier Besonderheiten auf.“

„Und was soll ich damit anfangen?“ Die Gardezweite schnaubt. „Die Wölfin finden und zur Zahnärztin schicken?“

„Nein. Aber diese Unregelmäßigkeit ist Dini, also Nadine, bereits bei den Knochen von letzter Woche aufgefallen. Und bei denen letzten Monat.“

Frau Dahl verengt ihre Augen zu Schlitzen. „Theoretisch denkbar: Es war schlicht und einfach dieselbe Wölfin. Aber in der Praxis …“

„Ein bisschen viel Zufall, dass wir nur ihre Spuren gefunden haben“, ergänze ich und zeige auf einen Rippenknochen, an dem die Unförmigkeit in der Spur des Eckzahns ebenfalls deutlich zu sehen ist. „Im Gegensatz zu Hündinnen fressen bei Wölfinnen immer mehrere Tiere gleichzeitig an einer Beute. Hier jedoch sieht es so aus, als wäre nur eine am Werk gewesen.“

„Eine Einzelgängerin?“ Frau Dahl schüttelt den Kopf. „Die sind selten und viel weniger erfolgreich bei der Jagd. Außerdem ist das viel zu viel Fleisch für ein einzelnes Tier.“

„Es sei denn …“

„Es sei denn, Menschen hätten ihre Finger im Spiel.“

Die Gardezweite reckt das Kinn. „Ich hole Frau Helmich.“

 

Unsere Gardeobere fällt ihr Urteil schnell.

„Kann sein, dass es nichts ist. Kann sein, dass es was ist. Wir gehen dem nach.“ Sie wirft mir einen Blick zu. „Gut gemacht, Helena.“

„Es ist Nadine aufgefallen.“

„Und du hast deiner Anwärterin zugehört, sie ernst genommen und die Sache gemeldet.“ Sie nickt mir zu und ich spüre, wie mir vor Freude die Hitze in die Wangen schießt. 

„Und jetzt kommt“, fährt sie fort. „Sabine, teil die Frauen ein. Ihr geht zu sechst. Helena kommt auf jeden Fall mit. Verpflegung für vier Tage, wir anderen bleiben hier.“

Frau Dahl nickt.

„Und lass Frau Baufrau los.“

Ein bisschen Mitleid habe ich dann schon mit Alexandra, als sie steif an uns vorbei ruckelt.

 

Wild zu jagen ist nur denjenigen erlaubt, die in der Nähe wohnen. Daraus ergibt sich die einfache Tatsache, dass alle Wilderinnen nicht ortsansässig sind. Und welche haben – von uns einmal abgesehen – einen Grund, durch die Gegend zu streifen? Rebellinnen natürlich, gesetzloses Verräterinnenpack.

Wir finden sie bereits nach wenigen Stunden. Oh, sie sind clever, haben Magie über das Feuer gelegt, sodass sein Schein nicht weit reicht und sich der Geruch des bratenden Fleisches nicht ausbreitet. Sie sind zu sechst: fünf Menschen und eine Hündin.

„Das ist eine Wolfshündin“, flüstert Annegret. Ihre Stimme vibriert vor Anspannung. Fast tun mir die Verräterinnen leid: Annegret hat nervöse Hände und ihre Magie ist feinster Sand; da kann wenig schon verdammt viel anrichten.

Wir halten uns nicht damit auf, das Pack zu umstellen und zum Aufgeben zu bewegen. Wir wissen, was sie sind. Also verteilen wir uns und greifen an. Annegret macht den Anfang. Die Frau, die gerade genüsslich in ein dampfendes Stück Fleisch beißt, bekommt binnen weniger Wimpernschläge Sand in die Augen. Sie gibt einen dumpfen Laut von sich. Dann schreit sie, als meine Gardeschwester einen festen Sandstrahl hinterherschickt. Es spritzt kein Blut aus dem Hinterkopf der Rebellin, Annegret hat heute sauber getötet.

Karolin kümmert sich um die beiden Männer, die spitze Angstschrei von sich geben. Flora ist logischerweise für den Hund zuständig. Unter ihrer Magie wird er fügsam wie ein Lamm. Frau Dahl, Paula und ich befassen uns mit jeweils einer Rebellin, wobei wir davon ausgehen, dass es sich bei jeder um eine magiefähige Frau handelt. Bei mindestens einer ist das offenbar nicht der Fall. Sie stirbt einfach so, ohne jede Gegenwehr.

Meine Gegnerin stellt sich mir mit wildem Blick. Aus ihren Händen schießt Magie. Wir haben sie überrascht und ihre Schüsse sind recht ziellos, doch das wird sich bald ändern. Ich antworte mit gebündeltem Eis und verpasse ihr einen schönen Schnitt in die Schulter.

Ein Brocken streift mein Bein: Erde, ausgerechnet.

Noch bevor ich reagieren kann, schleudert sie erneut. Und wieder und wieder. Schweiß strömt mir über die Stirn. Diese doofe Ziege ist unfassbar schnell! Ich habe sie erst ein einziges Mal getroffen und jetzt komme ich erst gar nicht mehr dazu, zu zielen. Aber mit Ausweichen komme ich auch nicht weiter. Zeit, meine Taktik zu ändern.

Mittlerweile keucht auch die Rebellin vor Anstrengung. Als sie eine winzige Verschnaufpause einlegt, lache ich laut auf.

„Ich habe Eis, du blöde Kuh!“, rufe ich zu ihr herüber. „Da bringt dir dein Acker gar nichts!“

Eins, zwei … und schon schleudert sie wieder. Der Brocken kommt mit voller Wucht auf mich zu. Ich wappne mich innerlich gegen den Schmerz, schieße etwas Eis auf den Dreckhaufen ab und schließe für eine Sekunde die Augen. Das blöde Ding trifft mich mit voller Wucht in den Bauch, zigfach härter von meinem eigenen Eis.

Ich schreie auf. Jetzt ist es die Rebellin, die lacht.

Ich dämpfe den Schmerz, indem ich Eis in meinen Bauch schicke. Bis jetzt läuft alles nach Plan.

Die Rebellin gönnt sich noch einen winzigen Augenblick des Triumphes. Dann visiert sie mich erneut an. Zweifellos rechnet sie damit, dass ich in meiner Verzweiflung erneut versuchen werde, ihre Magie mit meinem Eis aufzuhalten. Sicher hat sie extra feuchte Erde genommen. Was sie allerdings nicht weiß ist, dass ich genau darauf spekuliere. Keine legt sich ungestraft mit Helena Rinasdother an!

Sie schleudert und noch bevor der Erdklumpen den Höhepunkt seiner Flugbahn erreicht hat, schieße ich alles Eis hinein, das in mir ist. Für einen winzigen Augenblick steht der Klumpen in der Luft. Dann wird er von der Wucht meiner Magie nach hinten geschleudert, direkt in das Gesicht der Rebellin. Das ekelhaft matschige Geräusch wird von dem trockenen Knacken übertönt, mit dem ihr Genick bricht.

Wir löschen das Feuer. Der rote Schnee wird mit der Zeit versickern. Wir nehmen die wimmernden Männer zum Verhör mit in unser Lager. Flora hält den Hund weiterhin unter Magie. Verräterinnenpack hin oder her, hätte die Hündin alles mitbekommen, wäre sie jetzt sicher traumatisiert.

„Sie haben sich immer die besten Stücke Wild herausgeschnitten und die Reste dann ihrer Hündin überlassen, damit sie deren Spuren verwischt“, fasst Frau Helmich für die anderen Gardistinnen zusammen. „Eine recht gerissene Vorgehensweise, wie ich zugeben muss.“

„Stimmt.“ Nihan grinst von einem Ohr zum anderen. „Aber mit Verlaub, nicht gerissen genug für die Ostgarde!“

Unsere Gardeobere bedenkt Nihan mit einem ihrer seltenen Lächeln. Dann wendet sie sich an mich.

„Helena von Smaleberg, du hast deine Sache gut gemacht.“

Meine Nieren, oder was immer die Erd-Tussi da für Gekrö– Innereien getroffen hat, sehen das zwar anders, aber ich nicke. Und ich habe das wohltuende Gefühl, dass ich meinem Ziel, die nächste Gardezweite zu werden, soeben einen Schritt nähergekommen bin.

ENDE